Evolution
Ein Kind dabei zu beobachten und erleben zu können, das gerade alles lernt, was es zum Menschsein braucht ist wahnsinnig faszinierend. Fast zwangsläufig stellt sich mir dabei jedoch die Frage, wie die Menschheit es geschafft hat sich bis an die Spitze der Nahrungskette zu entwickeln.
Ich finde die Vorstellung des Urzeitmenschen in seiner Höhle, eingewickelt in Felle und stets darauf bedacht sich von der Natur nicht umbringen zu lassen, sei es durch Raubtiere oder die Umwelt, sehr spannend. Ich konnte mir immer ein wages Bild von der Wiege der Menschheit machen. Mit einem Kind jedoch, wurde aus diesem Bild ein Puzzle mit einer Menge neuer und vieler plötzlich fehlender Teile…
Jäger und Sammler
Das Bild, das uns bereits in der Schule nahegelegt wird, ist das der urzeitlichen Geschlechter-Unterteilung in Jäger und Sammler. Die männlichen Exemplare des Homosapiens hatten dabei die Aufgabe in der Wildnis mit primitiven Waffen und hohem körperlichen Einsatz Beute zu erjagen, während die weiblichen Mitglieder ihres Stammes dafür zuständig waren Feuerholz, Früchte und Wasser für die Grundversorgung zu sammeln. Dieses Bild wird als Erklärung für so manche Eigenheiten der Männer und Frauen der Neuzeit genutzt. Ich werde es auch nutzen, um zu erklären, warum ich denke, dass meine Kinder den Untergang, zumindest für meinen urzeitlichen Stamm bedeutet hätten.
Mitschwanger
Die erste Beobachtung, die ich machte als Anne schwanger wurde war das Phänomen des mitschwanger sein.
Die evolutionäre Theorie besagt hierbei, dass ein Jäger, der eine Sammlerin in seinem Stamm geschwängert hat, sich instinktiv darauf vorbereitet in den kommenden Monaten die immer schwerfälliger werdende Sammlerin zu beschützen. Deshalb wird er weniger Zeit für die Jagt aufbringen können. Wir Menschen gehören zu den wenigen Säugetieren, die so lange den Nachwuchs in sich tragen, bis die körperliche Belastungsgrenze erreicht ist. Viele andere Säugetiere, die keinen Nestbau betreiben bringen ihren Nachwuchs überlebensfähiger beziehungsweise ausgereifter auf die Welt. Das eindrucksvollste Beispiel sind die Elefanten mit einer Tragzeit von 22 Monaten. Das Elefanten-Kalb kann direkt nach der Geburt bereits Laufen und sogar längere Strecken an der Seite der Mutter zurücklegen.
Der Menschliche Nachwuchs jedoch kommt hilflos zur Welt. Weshalb sich bei unserem Urzeit Jäger der Stoffwechsel während der Schwangerschaft der Sammlerin nun also so änderte, dass jegliche Energie, die dem Körper zugeführt wurde, in Fettreserven gespeichert wurde.
Diese evolutionäre Gemeinheit trifft heutzutage nicht mehr jeden Mann. Dennoch ist dieses Phänomen, auch wenn es gerne als Ausrede herhalten muss, noch weit verbreitet. Ich konnte ebenfalls während der Schwangerschaft von Anne mit Luna und Malin so sehr auf meine Bewegung und Ernährung achten wie ich wollte. Die Wage und der Spiegel verrieten mir, dass die Evolution mich nicht vergessen hatte.
Fressen und gefressen werden
Nach der Geburt wird es dann erst so richtig spannend, für die Urzeit-Forscher unter uns. Während die Mutter in den ersten Wochen durch einen Hormoncocktail davor geschützt wird Müdigkeit zu empfinden, hat sich die Natur für uns Väter etwas ganz besonderes ausgedacht.
Nicht nur, dass viele Neugeborene in den ersten Monaten und Jahren mehr ihrem Papa ähneln, zusätzlich beherrschen sie auch noch einen ganz besonders klugen Trick. Das so genannte Engelslächeln. In seinen ersten Wochen lächelt das Baby unwillkürlich in unregelmäßigen Abständen. Egal ob es schläft oder wach ist. Wer als Vater so ein Lächeln seines Babys beobachtet hat wird verstehen, warum die Natur sich diesen effektiven Kniff einfallen ließ.
Die Kurzfassung des evolutionären Hintergrunds ist ganz banal. Der Säugling lächelt, um nicht gefressen zu werden.
Der Gedanke, den eigenen Nachwuchs zu fressen ist in der modernen Welt für jeden von uns unglaublich abwegig. Das Engelslächeln ist dennoch immer noch sehr wichtig. Denn gerade beim ersten Nachwuchs sind die Anfänge für uns Väter alles andere als einfach. Sich rund um die Uhr um ein Neugeborenes zu kümmern ist für den eigenen Bio-Rhythmus eine Aufgabe, die uns oft an den Rand der Geduld bringen kann. Und damit wir dem neuen Menschlein in unserer Familie auch die dritte Nacht in Folge ohne Schlaf verzeihen, lächelt es uns von Zeit zu Zeit so herzerwärmend an. Ohne zu wissen, was es da tut.
Ich für meinen Teil ziehe den Hut vor Mutter Natur. Weder Luna noch Malin haben bis heute auch nur einen einzigen Bissabdruck am Körper.
Leichte Beute
Wir Väter sind für unseren Nachwuchs jedoch nicht die einzige Bedrohung in der Prähistorie gewesen. Da gab es noch die großen Räuber. Ich denke da immer gerne an das Klischee des umherstreifenden Säbelzahntigers. Aber auch andere Stämme waren, was die Nahrungsbeschaffung anging, nicht gerade wählerisch.
Das bedeutete also während der Jagt und des Sammelns möglichst leise zu sein.
Wer die ersten Wochen mit einem Neugeborenen verbracht hat, wird spätestens jetzt stutzig.
„Wie zur Hölle, haben wir es nur geschafft, mit einem Säugling nicht die Aufmerksamkeit aller Fressfeinde im Umkreis von 5 Kilometern auf uns zu ziehen?“ Diese Frage trieb mich oft umher, wenn ich mit der schreienden Luna oder Malin auf dem Arm an der Reihe war Anne abzulösen, um ihr eine Auszeit für Rücken und Nerven zu gönnen.
Die Antwort darauf liegt in der Immobilität unserer Babys. Ein Säugling ist nicht nur ein Säugling, sondern auch ein Tragling. Ein Phänomen, dass mich bei beiden meiner Töchter tief beeindruckt hat ist die Tatsache, dass sie sich am Körper eines Elternteils innerhalb weniger Augenblicke von Schreiattacken beruhigen konnten. Sobald eines unserer Babies (mit Hilfe einer Trage oder eines Tragetuches – aber oft auch ohne) eng am Körper getragen wurde und man in Bewegung blieb, beruhigte es sich häufig binnen weniger Augenblicke.
Und bei dem rasanten Körper- und damit verbundenen Organwachstum sind die verzweifelten Schreie nach dem nächsten Raubtier, das dem Leiden ein Ende verschaffen soll, in den ersten Monaten unseres Lebens zahlreich.
Das Leben in der (modernen) Höhle
Das Leben als Papa ist in den ersten Wochen des Kindes zwar hauptsächlich durch das Zusehen und Kennenlernen des Neugeborenen geprägt. Wer jedoch genau hinschaut und sich hin und wieder fragt, was sich die Natur bei so manchen Eigenheiten dieser kleinen Wesen gedacht hat, wird vielleicht wie ich in die Welt der Höhlenmenschen zurückversetzt.
Wahrscheinlich entwickelt sich unsere Spezies in den nächsten Generationen immer weiter und passt sich der industrialisierten, globalen und modernen Welt weiter an. Vielleicht bleibt sie sich aber auch den einen oder anderen Eigenheiten treu. Solange wir nicht verlernen, dass alles was in der Natur süß schmeckt nicht giftig sein kann und wir fleißig alle Steckdosen in unserer modernen Höhle kindersicher machen, bin ich guter Dinge, dass wir Väter auch weiterhin unseren Teil zum Fortbestand der Menschheit beigetragen werden.