Nicht mehr ihre Nummer 1
An dem Tag, an dem Luna auf die Welt kam verlor ich den Platz als Annes unangefochtene Nummer 1. Was im ersten Moment hart klingt ist aber weniger schlimm, wenn man die Hintergründe dieser Feststellung erfährt. Mir wurde dieser Umstand auch tatsächlich erst sehr spät bewusst, weil es kein Prozess war, den ich als Vater gespürt hätte. Viel mehr wurden wir durch Freunde auf dieses Thema gebracht. Aber vielleicht fange ich lieber von vorne an.
Luna war gerade anderthalb Jahre alt. Anne und ich hatten einen eingespielten Rhythmus, bei dem Anne sich tagsüber mit Müttern traf, die sie in den vergangenen Monaten kennengelernt hatte. Aufgrund der Tatsache, dass diese Mütter Kinder im gleichen Alter hatten, fand zwischen ihnen ein reger und oft auch intimer Informationsaustausch statt. Es ist spannend, wie andere Menschen mit diesem neuen Lebensabschnitt umgehen, vor allem wenn man dabei die unterschiedlichen Lebenssituationen kennenlernt in denen sich andere Paare befinden.
Eine ganz normale Krise
Anne und ich saßen beim Abendbrot und erzählten uns, was wir am Tag erlebt hatten und welche Themen uns aktuell durch den Kopf geisterten. Sie kam auf eine der besagten Mütter zu sprechen (nennen wir sie einfach mal Neele) und eröffnete damit, dass Neele kürzlich ein Krisengespräch mit ihrem Mann geführt hätte. Das war nichts ungewöhnliches, Paare mit Kindern, die jünger als zwei Jahre sind stoßen auf viele Situationen, die das Potential für Meinungsverschiedenheiten bergen. In diesen Momenten ist es wichtig diese „Krisengespräche“ zu führen, um wieder auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.
Wie dem auch sei. Neele erzählte Anne also davon, wie sich ihr Mann in letzter Zeit vernachlässigt fühlte. Fast so, als wäre er nicht mehr der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Nicht mehr ihre Nummer 1.
Als Anne hier eine Pause machte wusste ich, dass ich auf diese Aussage reagieren sollte und kramte schnell in meiner Gefühlswelt der letzten Monate nach. Ich verstand Neeles Mann. Auch wenn ich mich nicht vernachlässigt fühlte, wusste ich doch, dass es für viele Männer nicht einfach ist, sich so lange dem Thema des Eltern-Daseins unter zu ordnen. Weil ich nicht wusste, wie ich diese Tatsache kommentieren sollte nickte ich einfach. Und Anne fuhr fort.
Neele war nach der Aussage ihres Mannes erst stutzig gewesen. Natürlich war ihr Kind ihr neuer Lebensmittelpunkt und sie ging davon aus, dass es ihrem Mann genauso ging. Dem war jedoch nicht so. Für Neeles Mann kam ihr Kind erst an zweiter Stelle, nach ihr. Das wiederum verstand ich gut. „Das ist bei uns doch nicht anders.“ bestätigte ich. Anne legte den Kopf schräg. Sie wusste, dass ich nun zu einer Erklärung ansetzen würde.
Evolutionärer Pragmatismus
„Ich bilde mir nicht ein, dir jemals so nah zu sein, wie ein Mensch, der in dir gewachsen ist. Den du neun Monate in dir getragen und mit allen Mitteln davor beschützt hast Schaden zu nehmen.“ begann ich. „Ich weiß, dass ich vor Luna dein Fokus und dir dein liebster Mensch war. Mich jetzt hinter Luna einzureihen ist, in meinen Augen selbstverständlich.“ Mittlerweile hatte Anne angefangen zu nicken und wartete auf mein „aber“. Und ich ließ sie nicht lange warten.
„Aber bei uns Männern ist das etwas anderes. Ich denke, dass es alleine schon durch die Evolution überhaupt nicht möglich ist, dass wir uns mehr an unseren Nachwuchs binden, als an die Person, die uns unseren Nachwuchs geschenkt hat. Wenn wir das Thema einmal wissenschaftlich und komplett gefühlskalt anschauen, dann verhält es sich doch so:“ ich wechselte in meine Oberlehrer-Rolle. „Für uns Männer ist die Fortpflanzung um ein vielfaches einfacher als für euch. Theoretisch könnte ich in einem Jahr hunderte Kinder bekommen, bei dir sieht das anders aus. Nicht nur, dass ihr Frauen im Gegensatz zu uns Männern nur eine begrenzte Anzahl an fruchtbaren Eiern tragt, ihr seid auch noch mir der Aufgabe betraut aus der befruchteten Eizelle ein Kind auszutragen. Ich finde es daher nicht verwunderlich, dass wir Männer unseren Fokus auf unsere Partnerin legen, die uns theoretisch jederzeit neuen Nachwuchs schenken kann, während ihr Frauen euch nach dieser intensiven Erfahrung einer Schwangerschaft mit einer Bindung an euer Kind konfrontiert seht, die mit nichts zu vergleichen ist.“
Egal an welcher Stelle
So schonungslos diese Formulierung auch war, wusste ich, dass Anne mir für solche Äußerungen nie vorwerfen würde gefühlskalt zu sein. Oder unser Kind nicht zu lieben. Es ist einfach meine Art Dinge zu erklären, die ich beobachte. Ob nun bei mir selbst, bei Anderen oder der Umwelt. „Ich für meinen Teil habe damit kein Problem. Ich weiß, dass ich vor Luna deine Nummer 1 war und dieses Gefühl kann mir keiner mehr nehmen. Ich bin auch nicht eifersüchtig oder traurig darüber. Aber ich finde, dass man diesen Umstand schon zur Sprache bringen darf, wenn man das Gefühl hat benachteiligt zu werden.“ schloss ich.
Anne nickte erneut. Stand vom Tisch auf, umrundete ihn und setzte sich auf meinen Schoß. Ihre Arme über meine Schultern gelegt. „Weißt du Tim“ sagte sie „dich liebe ich!“
Ich lächelte, gab ihr einen Kuss und verstand, dass es mir egal ist an welcher Stelle ich bei ihr stehe, solange sie an meiner Seite ist.